Die Auslegung oder Interpretation kennt der ehemalige Schulbesucher unter dem Begriff „Was will mir der Künstler damit sagen?“. Kein Text, kein Bild wird ohne Intention und gedankenfrei geschaffen. In der wissenschaftlichen Abhandlung „Visualised motion: iconography of medieval and renaissance fencing books” schreibt der Autor dieser Zeilen in aller Kürze über die Auslegung von Bildern in Fechtbüchern. Es ließe sich ein riesiges Buch darüber verfassen. Ein noch dickeres wäre über die Texte zu schreiben.
Die Auslegung ist der erste Schritt, sich vom Buchstaben der Texte und dem Nachahmen der Bilder zu lösen. Dabei wird sich allerdings nicht von der Fechtlehre des ursprünglichen Autors entfernt. Im Gegenteil, es wird versucht sich der Lehre stärker zu nähern. Um dies durchführen zu können, müssen Interpreten eine große eigene Kenntnis vorweisen. Ohne eine grundlegende, sorgfältige Vorbildung in Kampfkunst und ein Studium zeitgenössischer Quellen (der Fechtkunst, der regionalen Geschichte und der Kunst) ist eine Auslegung nur per Zufall ein sinnvolles Produkt.
Durchführung der Auslegung
Bei der Auslegung ist ein systematisches Vorgehen angebracht. Sie unterläuft folgende Schritte. Jeder dieser Schritte sollte ein Ergebnis erzeugen und wird idealerweise festgehalten.
1. Schritt Wahrnehmung
Was sehe und lese ich, und wie wirkt es auf mich?
Antworten auf die Fragestellungen:
- Was fällt mir besonders auf?
- Welche Details sind besonders hervorgehoben?
- Welche Schlüsselwörter werden im Text verwendet?
- Wie martialisch / brutal erscheint es?
Genaue Erfassung des Sichtbaren und des Textes:
- Gegenstände, Figuren
- Art des Textes, Schrift (sorgfältig, fahrig), Druck,
Analyse der Gestaltung hinsichtlich
- Aufbau, Symmetrie, Asymmetrie (im aufgeschlagen Buch)
- Farben
- Bewegungsrichtung der Figuren
- Reim und Versmaß des Textes
- Trennzeichen und Trennungen im Text
2. Schritt Bezug auf den Kontext
Fechtkunsthistorischen Einordnung
- Einflüsse von Zeitgenossen
- Einflüssen von Quellen, Autoritäten, inklusive fehlerhafter Kopien
- Einflüsse durch Gilden und vorherrschenden Fechtstilen
- Mode der Waffen
Kunsthistorische Einordnung:
- künstlerische Strömungen,
- stilistische Merkmale
- Mode, Kleidung und Schuhwerk
Biographische Einordnung:
- wo und wovon lebte er
- mit wem und für wen arbeitete er,
- was bewegte ihn (Religion)?
- politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
- juristische Regeln
3. Schritt Interpretation
Nachdem durch die Rekonstruktion die nachgeahmten Bewegungen der Figuren in mehreren Varianten bekannt sind, kann nun unter Bezug auf die tatsächliche Wahrnehmung, die Intention und dem Kontext, das rekonstruierte Fechtstück kritisch betrachtet und überarbeitet werden. Dabei wird häufig die Anzahl der Varianten deutlich reduziert, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das Fechtstück als repräsentativ für bestimmte Gesetze und Prinzipien der Kunst erkannt werden. Diese stellen den Lehrinhalt des Fechtstückes dar.
Sind die Regeln und Gesetzen in mehreren Varianten identisch, so ist die Ausprägung der Variante fast irrelevant. Sie sind austauschbar. Finden sich jedoch sehr unterschiedliche Prinzipien und Regeln der Fechtkunst in den unterschiedlichen Varianten, ist die Interpretation durch eine fehlerhafte Rekonstruktion selbst fehlerhaft. Es gilt die Rekonstruktion zu überprüfen. Eventuell liegen Fehler vor, oder das Original ist so lückenhaft, dass sich kein eindeutiger Lehrinhalt finden lässt.
Das Festhalten der mit der Technik zu lernenden Regeln stellt den finalen Schritt in der Interpretation dar.
4. Schritt Kritische Auseinandersetzung
Bei der Interpretation besteht die Gefahr des Wunschdenkens und der selbst erfüllenden Prophezeiung. Wird eine Interpretation vom Wunsch geprägt, dass diese ein bestimmtes Gesetz der Fechtkunst als Kern vermitteln soll, oder grundsätzlich immer einen Lehrinhalt besitzt, so wird die Interpretation im Sinne der Historischen Fechtkunst darunter leiden (die Fechtkunst als Kampfkunst selber eher nicht). Somit sei hier zur Vorsicht gemahnt. Manche Fechtstücke sind einfach nur nettes Schmuckwerk, dienen der Schaustellkunst oder sind durch die Tradierung und das Kopieren inhaltlich verfälscht. Ebenso ist von der Generalisierung abzuraten, dass jedes Stücks der Quelle eine Nützlichkeit im Gefecht auf Leben und Tod unter Beweis stellen muss. Die kritische Auseinandersetzung mit der Quelle ist ein wesentlicher Teil der Interpretation. Auch mittelalterliche Meister sind nicht von Unsinn und Scharlatanerie befreit.
Final gilt es die Interpretation ebenso kritisch zu betrachten, wie die Quelle selbst. Die Interpretation wird (eventuell wieder mit den Scorecards) unter anderem überprüft, ob sie
- mit der Rekonstruktion im Einklang ist,
- mit dem Bildmaterial und den Texten der Quelle übereinstimmt,
- relativ wenig Eigenleistung des Interpreten hinzufügt,
- im Sinne der Kampfkunst sinnvoll erscheint (beispielsweise keine übermäßige Kooperation des Partners verlangt),
- und für den dedizierten Gewinner des Fechtstückes kein unzumutbares Risiko birgt,
- einen Lehrinhalt vermittelt.
Eine Interpretation muss diese Aspekte nicht vollständig erfüllen und kann trotzdem die bestmögliche Auslegung der Quelle sein. Bei überwiegend negativer Bewertung ist eine Neubetrachtung der Quelle eventuell notwendig, da die Fehlerursache in der Rekonstruktion liegen kann.
Kritik und Korrektiv
Dem glücklichen Zufall einer regen Gemeinschaft ist es zu verdanken, dass ein großes Korrektiv die oft hanebüchenen Produkte der frühen Auslegungen des Historischen Fechtens überarbeitet hat. Im aktuellen Forschungsstand stehen dem willigen Lernenden durchaus brauchbare Auslegungen zur Verfügung. Doch noch immer finden sich eine unglaublich hohe Anzahl an Gruppen, die sich dem Korrektiv verweigern und Auslegungen vermitteln, die unserer Auffassung nach wenig mit der Intention des alten Fechtmeisters und seiner Lehre zu tun haben. In den meisten Fällen sind dies auch völlig untauglich, Fechten zu lernen.
Vermittlung von Interpretationen
Interpretationen eignen sich hervorragend in Seminaren oder Workshops gelehrt zu werden. Die Interpretation von mehreren gut ausgewählten Stücken eines Werkes vermittelt die Intention und den Fechtstil des Autors in guter Weise. Sie erweitert den Horizont des Teilnehmers um einen wichtigen Aspekt des Historischen Fechtens: dem Verständnis der jeweiligen Quelle.
Wird eine Auslegung im regulären Unterricht gelehrt, so wird aber erneut ein unvollständiges Produkt weitergegeben. Zwar sind inzwischen die Lücken gefüllt und der Interpret hat sich ein Verständnis der Intention und der Lehre erarbeitet, doch fehlt der wesentliche Schritt der Umsetzung. Dies ist vergleichbar mit dem Auswendiglernen von Gesetzen und Formeln in der Mathematik, bei dem nur ganz wenige und nur ganz leichte Aufgaben gerechnet werden. Diese Aufgaben kann der Schüler mit den Formeln zwar lösen, doch die Übertragung auf eine andere, abweichend oder komplexe Aufgabe, muss er selber sich erarbeiten. Auch sind dem Schüler Grenzwerte unbekannt oder die Fälle, in denen die Formel schlicht nicht funktioniert.
Zusammengefasst: die Vermittlung von Auslegungen lehrt dem Fechtschüler den Inhalt einer Quelle sowie einfache Prinzipien anhand von wenigen Beispielen, aber kein Verständnis der Fechtkunst.