Wenn es eine ununterbrochene Fortsetzung der Fechtkunst als Kampfkunst gegeben hätte, wie sähe diese heute aus?

Dieser Artikel fantasiert und spekuliert mit dem Gedankenspiel, dass die Fechtkunst nicht durch zwei Weltkriege und gesellschaftlicher Kulturvernichtung in der NS-Zeit vernichtet worden wäre, sondern in der uns als historisch bekannten Form weiter geführt worden wäre zu einer Modernen Fechtkunst.

Moderne Fechtkunst wäre die konkrete Anwendung der erlernten Prinzipien und Techniken der Historischen Fechtkunst in der Modernen Welt von heute.  Diese Kampfkunst stände dem historischen Fechtbegriff nahe, der Fechten “Fight”  als Befähigung zum Kämpfen in und außerhalb von Turnhallen sieht.

Der Begriff “Historisch” on dieser Fechtkunst bedingt, dass sie so nahe wie möglich am historischen Original gehalten wird, insoweit es die Ausprägungen als Sport oder Hobby in einer modernen Umgebung zulassen. Je mehr der historischen Eigenschaften aus der Historischen Fechtkunst genommen werden, desto weniger genügt sie dem Anspruch eine solche zu sein. Es bleibt die rohe Fechtkunst als abstrahiertes geistiges und körperliches Wissen. Durch Substitution der historischen Eigenschaften mit modernen Objekten, welche wenig bis gar keine Ähnlichkeit mit tatsächlichen Funden der Vergangenheit haben, wird die Historische Fechtkunst modernisiert. Mit einem weiteren Schritt, die Inhalte in ein modernes Umfeld zu übertragen, entsteht eine Moderne Fechtkunst.

Als Beispiel lässt sich das historische Fechten mit Schwert und Schild nehmen. Werden Schild und Schwert durch Anti-Riot Gear (durchsichtiges Plastikschild und spezieller Schlagstock) ersetzt und für das Umfeld einer gewalttätigen Demonstration trainiert, so gelten immer noch die Prinzipien der Fechtkunst, aber sie sind keinesfalls noch historisch. Die Fechtkunst wird den modernen Anforderungen entsprechend verändert, bezieht jedoch weiterhin ihre Grundlagen aus dem, was ursprünglich in den historischen Quellen formuliert wurde.

Das Beispiel mit Schwert und Schild in Bezug zu modernen Polizei Einsatz habe ich absichtlich gewählt, da es die Extreme darstellt und trotzdem praktikabel ist. Weitaus schwieriger wird die Unterscheidung im Kampf mit Dolch oder kurzem Messer (siehe Artikel Moderner Messerkampf im Verrgleich)

Die letzten Gedanken über die Moderne Fechtkunst machte man sich vor über 100 Jahren. Damals ging es um Duellregeln und Fechten mit Degen und Säbel. Heute machen wir uns als Historischer Fechter konfrontiert mit modernen Kampfkünsten und Sportarten unsere Gedanken, inwieweit Ringen, Dolchkampf und Fechten mit Schild und Schwert uns in gefährlichen Situationen helfen könnten. Ohne viel Überlegungen wird klar, dass schon vor Jahrhunderten, das Ringen und der Dolch, sowie Schwert und Stock im Kampf um das Überleben und in Schlägereien wesentlich waren.

Edward William Barton-Wright entwickelte Selbstverteidigung mit dem Spazierstock

Noch in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts lernte man das Fechten mit dem Spazierstock und Regenschirm und den Gebrauch des Mantels wie im Fechten des 17. Jahrhunderts. Ohne die Gräuel, Schrecklichkeiten und Wirrnisse der Weltkriege und NS-Zeit würden wir heute in Europa auf eine gewachsene und modernisierte Tradition der Fechtkunst bis hin zur Selbstverteidigung blicken.

Wie sähe eine Moderne Fechtkunst aus?

Eine Moderne Fechtkunst würde an die Zeugnisse dieser teilweise vergessenen und verschlossenen Kunst anknüpfen. Vereinzelt noch existierende Traditionen im Messer und Hirtenstock flössen in die Lehre der Modernen Fechtkunst ebenso ein, wie im Schwerpunkt die Schrift- und Bildzeugnisse alter Meister. Die Moderne Fechtkunst würde Ringen und Dolchkampf, Stock- und Schildkampf mit modernen Mitteln für moderne Zeiten verwenden.

  • Ringen ist die Lehre, einen Gegner kampfunfähig zu machen. Dies kann entsprechend der Situation in freundlichem Haltegriff enden, aber auch in zerstörerischen Schlägen, Würfen und Hebeln.
  • Dolch beinhaltet die Fortsetzung des Ringens mit einer Stich- und Schnittwaffe kürzer als ein Schwert. Im Kampf mit dem Messer ist zwischen reinem Drohen, sozial eingeschränkten Kampf und brutaler Tötungsabsicht eine extrem breite Varianz. Im Fechten muss nicht immer ein scharfer und spitzer Gegenstand verwendet werden, ein kurzes Stück Holz oder ein ähnlicher Gegenstand dient der Selbstverteidigung sehr gut.
  • Stock ist die Anwendung der Kunst aus dem Dussak und Langen Messer auf eine stumpfe Hiebwaffe. Hier sind nicht nur Schläge und „Stiche“ interessant, sondern auch eine Vielzahl von Hebeln und Haltegriffen.
  • Stock und Schild ist in der Anwendung Ordnungshütern und entsprechenden Sicherheitskräften vorbehalten. Es handelt sich um die Kunst mit den besten Verteidigungsmöglichkeiten, bei gleichzeitiger Option den Gegner schnell kampfunfähig durch Schmerz und Verletzung zu machen.

Medieval Weapons vs Riot Shield (Extreme Test) Lords of the Blades Ep.7

Moderne Fechtkunst wäre somit zum Teil eine Lehre des Kämpfens zur Selbstverteidigung als Fortführung und Wiederbelegung einer Traditionellen Kampfkunst.

Die Moderne Fechtkunst wäre zum anderen Teil ein Sport. Historische Fechtkunst (HEMA) lebt nicht abseits des sportlichen Geschehens. Zur Modernen Fechtkunst würde das Turnierwesen gehören, welches die internationale Gemeinschaft und die Verbände geschaffen haben würden.

Auch wenn wir uns in diesem Artikel in einer spekulativen Blase bewegen (denn faktisch gibt es keine ernsthafte Fortführung einer umfassenden Fechtkunst, sondern nur Fragmente wie das Sportfechten oder das Studentische Fechten, sowie einzelne Stockkampf-, Messerkampf- und Ringtraditionen), bleibt zum Schluss noch die Frage offen:

Könnte sich aus der Rekonstruktion der Fechtkunst im Rahmen der Historischen Fechtkunst in den nächsten Dutzend Jahren eine Moderne Fechtkunst entwickeln?

Die einfache Antwort lautet: JA!

Die Attraktivität der Historischen Fechtkunst ist die Illusion des Schwertkampfes. Kaum noch jemand in den westlich orientierten Ländern kann sich mit den in den 1980ern geprägten Ideen eines Ninja Kämpfers identifizieren, während die kulturellen Nachwirkungen der Herr der Ringe Filme immer noch nachwirken und derartige Filme ebenso wie Historienfilme als Genre fest etabliert haben. Nicht auch zuletzt durch die sehr erfolgreiche Serie “Vikings”.

Es bleibt daher nicht aus, dass Schulen, die eine Art der Selbstverteidigung anbieten, sich auch mit der Historischen Fechtkunst auseinandersetzen und versuchen eine Synergie herzustellen. Bereits in den 1990ern interessierte sich der WingTsun EWTO Begründer Keith R. Kernspecht (angeregt durch Volker Kunkel) für die alten Fechtmeister und zitierte sie in einigen seiner Bücher. Die Anzahl der “Schwertkampf Seminare” angeboten von den Kampfkunst Studios ohne Bezug zur HEMA nimmt beharrlich zu. Aktuell noch in einer Anlehnung entweder an Escrima oder Chinesischer Kampfkunst, finden sich auch Entlehnungen aus der Europäische Historische Fechtkunst.

Die obigen Screenshot-Zitate in der Galerie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der stetig wachsenden Angebote in kommerziellen Kampfkunst-Schulen ohne tiefgehenden Bezug zur Historischen Fechtkunst. Was sich dort entwickelt, ist eine moderne Variante der Historischen Fechtkunst, denn auf lange Sicht werden auch diese Anbieter vernünftige und nachvollziehbare Kursangebote anbieten wollen, und da führt der Weg nicht an der Historischen Fechtkunst vorbei. Ansonsten gäben sie sich schnell der Lächerlichkeit preis. Bieten die Vereine doch aktuell ein recht hohes Niveau dieser Kunst für weitaus weniger Kosten.

Der Mehrwert der kommerziellen Angebote kann somit nur die praktische Anwendung mit der theoretischen Eignung zur Selbstverteidigung sein. Dies war bereits in Bezug auf Eskrima der Fall. Dieser Kampfkunst wird eine hohe Effektivität in dem Umgang mit kürzeren Klingenwaffen und Stöcken zugesprochen. Sie besitzt allerdings in deutschsprachigen Ländern keine hohe Attraktivität. In Gegensatz zu den steigenden Teilnehmerzahlen im Historischen Fechten.

Somit ist zu vermuten, dass bei weiterhin steigendem Interesse, die kommerziellen Studios eine Moderne Fechtkunst entwickeln werden. Diese wird als Mehrwert im Vergleich zu Vereinen verkauft werden. Es hätte dann Selbstverteidigung im Studio einen höhren Wert als der Sport im Verein. Diese Entwicklung hatte Ende der 2010er begonnen und wurde durch die Covid-19 Pandemie jäh unterbrochen. Es bleibt abzuwarten, ob die kommerziellen Studios wieder auf den Zug aufspringen werden, oder sich in den nächsten Jahren erst einmal auf ihr Kerngeschäft konzentrieren werden.