„Rekonstruktion ist der Vorgang des neuerlichen Erstellens oder Nachvollziehens von etwas mehr oder weniger nicht mehr Existierendem oder Unbekanntem.“ wie Wikipedia definiert. In der Rekonstruktion eines alten Textes oder Bildes zur Fechtkunst füllen wir Lücken auf, die der Verfasser absichtlich oder unabsichtlich gelassen hat. Dies sind Bewegungen, die wir als Notwendigkeit erkennen, um die beschrieben Bewegungen durchführen zu können. Je nach persönlichem Kenntnisstand und dem Willen zum Austausch mit einer kritischen Gemeinschaft, sind die zugefügten Bewegungen kampfkünstlerisch angemessen oder leider auch nicht.

Die Rekonstruktion ist ein notwendiger Schritt, der für Historische Kampfkunst begriffsbestimmend ist. Es wäre bei aktuellem Forschungsstand nicht zwingend notwendig die mühsame Arbeit der Rekonstruktion selber zu unternehmen. Doch leider sind fast alle Sekundärquellen nicht im Stand einer Rekonstruktion mit klarer Kennzeichnung des hinzugefügten Materials (wie in der modernen Wissenschaft üblich), sondern sie sind in den Prozessschritten viel weiter. Auch die öffentlich zugänglichen Materialien zu den Seminaren der Marxbrüder sind entweder im Stand der Umsetzung (Lehrgänge zu einzelnen Fechtmeistern) oder im Stand der Vermittlung (Lehrgänge zu Waffentypen).

Rekonstruktionen finden sich im Ansatz in Übersetzungen, genauer Übertragungen. Dort wird im Versuch ein passendes Wort zu finden, eine Lücke aufgefüllt. Denn das moderne Wort trägt die Bedeutung einer bekannten Bewegung mit sich. Daher lassen sich Übersetzungen im Englischen oft leichter auslegen, als die originalen Texte.

Durchführung der Rekonstruktion

Die Rekonstruktion eines Fechtstückes ist scheinbar kein einfaches Unterfangen. Tatsächlich ist es bei Bildern aber recht einfach. Kniffliger wird es bei Texten, dort muss zuvorderst eine Übertragung in eine moderne Sprache geschehen und dies in mehreren Varianten, sofern es Bedeutungsunklarheiten gibt.

1.       Schritt: Festlegung von Anfang und Ende

Es ist unverzichtbar, dass vor der eigentlichen Rekonstruktion mindestens ein Anfang und ein Endergebnis festgelegt werden . Diese müssen in der Quelle nicht beschrieben sein, bestimmen aber maßgeblich, wie die Lücken ausgefüllt werden. Sind mehrere Anfänge und Endergebnisse denkbar, so sind diese auszuspielen. Im Sinne der Kampfkunst sollte immer ein tödlicher und ein nicht-tödlicher Ausgang des Gefechtes (z. B. Ringen, Flucht oder Turnier mit Stop nach Treffer) festgelegt werden. Es sei denn das Ende ist explizit beschrieben.

2.       Schritt: Nachahmung

Methoden der Rekonstruktion beginnen mit der exakten Nachahmung des Überlieferten:

Statisch:

  • Statisches Nachahmen von Bildern
  • Statisches Darstellen von Schlüsselmomenten im Kontakt mit dem Gegner

Dynamisch:

  • Nachahmen der textlichen Beschreibungen von Bewegungen ohne Kontakt mit dem Fechtpartner
  • Bewegungen die zum Ergebnis das statische Bild haben

Aus dem statischen und dynamischen wird eine Bewegungsfolge im Kontakt mit dem Fechtpartner (sofern das Stück nicht solo durchzuführen ist) erarbeitet.

3.       Erarbeiten von Varianten

Das Entwickeln von Varianten kann durchaus spielerisch geschehen. Die „gefühlsmäßig“ besten und passendsten Varianten werden festgehalten und gehen in die kritische Betrachtung.

4.       Schritt: Kritische Betrachtung

Jede Variante wird unter anderem überprüft, ob sie

  • mit dem Wortlaut und der Abbildung der Quelle übereinstimmt,
  • im Sinne der Kampfkunst sinnvoll erscheint (beispielsweise keine übermäßige Kooperation des Partners verlangt),
  • und für den dedizierten Gewinner des Fechtstückes kein unzumutbares Risiko birgt.

Scorecards

Eine gute Methode der kritischen Betrachtung ist die Bewertung durch fachlich vorgebildete Personen in einer Gruppe. Jeder dieser Aspekte und bei Bedarf weitere, können gegen eine so genannte Scorecard gehalten werden. Jede Scorecard steht für ein zu erreichendes Ziel. Eine Karte für das Ziel “Treu zur Quelle” enthält beispielsweise die Frage „Stimmt die Rekonstruktion mit der Quelle exakt überein?“ und kann als Antworten „Stimme ich voll zu“, „Stimme ich weitgehend zu“, „Stimme ich weniger zu“, „Stimme ich gar nicht zu“ aufweisen. Die Ergebnisse können verglichen und diskutiert werden.

Video-Reflektion

Eine weitere hilfreiche Methode ist das Aufzeichnen des Stückes mit Video. Die Durchführenden werden aufgefordert, ihre Eindrücke während der Durchführung zu beschreiben. Dies wird dann mit den Eindrücken von anderen verglichen, die ausschließlich die Aufzeichnungen sehen und die Quelle kennen. Danach können die Durchführenden erneut werten.

Als Ergebnis der Rekonstruktion liegen wenige plausible Varianten vor. Diese können und sollten festgehalten werden. Dabei sollte genau überdacht werden, welches exakt der Quelle entspricht und welcher Anteil hinzugefügt wurde, um die Durchführung der Variante plausibel zu gestalten.

Vermittlung von Rekonstruktionen

Rekonstruktionen können als Teil einer gemeinsamen Interpretationsarbeit im Diskurs als Workshop vermittelt werden. Ebenso können sie ausdrücklich als solche betitelt in einem Seminar gelehrt werden. Ein schwerwiegender Fehler wäre jedoch, die Rekonstruktion ohne mögliche Varianten und ohne Klarstellung des selbst hinzugefügten zu vermitteln. Workshops und Seminare dieser Art finden sich oft auf Veranstaltungen zum Historischen Fechten, wobei selten klar ist, was nun Rekonstruktion oder schon Interpretation ist. Auch wird das selbst hinzugefügte nicht illustriert. Dies den Autoren und Seminarleitern vorzuwerfen, wäre jedoch völlig falsch. Denn an die klar als nicht wissenschaftlich erkennbaren Veranstaltungen sollte der Anspruch entsprechend niedrig sein.

Ein nicht seltener Fehler ist es, Rekonstruktionen im regulären Unterricht vermitteln zu wollen. Sie sind dafür völlig ungeeignet und führen zum Nachtanzen sinnfreier Bewegungen. Denn ohne eigenes Denken und Hinzufügen, einem tiefen Verständnis durch die Auslegung kann kein Fechten im Sinne des alten Meisters entstehen. Die Schüler lernen so gut wie nichts oder sehr langsam, da sie alle weiteren Schritte selber vornehmen müssen. Im Sparring oder Freikampf sind dann alle nachgetanzten Bewegungen nicht mehr erkennbar. Vergleicht man es mit dem Lernen von Mathematik, so wird immer nur eine oder zwei Aufgaben zu jedem Gesetz und jeder Formel geübt, aber weder die Formel noch das Gesetz vermittelt. Es ist ziemlich sinnfrei.

Zusammengefasst: wer eine Rekonstruktion sklavisch an dem Wortlaut des alten Textes vermittelt, lehrt kein Fechten, sondern einen komplexen Partnertanz.