In dem vermutlich ältesten uns bekannten Buch zur Kampfkunst I.33 geht ausschließlich um das Fechten mit kleinen Schilden und Schwert. Das Buch, das von Wissenschaftlern auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wird, wurde in einer Werkstatt von mindestens drei Schriftgelehrten und fünf Illustratoren erstellt. Die Geschichte des Buches erzählt uns, dass es im 16. Jahrhundert aus einem fränkischen Kloster geplündert wurde.

Zwei Namen von Heiligen, die im 8. Jahrhundert in Deutschland tätig waren, tauchen im Originaltext des I.33 auf: Luidger (742 – 809) und Walpurgis (710-780). Walpurgis war in Tauberbischofsheim in der Region Tauberfranken und in Heidenheim in der Region Mittelfranken aktiv. Luidger als Friese war an den Norden Deutschlands gebunden und hatte geographisch wenig Verbindung zu den Franken. Seine politische Ausrichtung, der fränkischen Carolus Magnus als Bischof und Missionar bei den Sachsen auf der anderen Seite zu dienen, war stark.

Zwei Heilige im Kampf im I.33

Heilige Walpurgis, Meßkirch, 1535

Es kann reiner Zufall sein, dass zwei prominente Persönlichkeiten des 8. Jahrhunderts in dem Buch I.33 erscheinen. Ihre Namen waren in den fränkischen Klöstern zur Zeit der

 

Herstellung üblich. Trotzdem es ist durchaus bemerkenswert. Es gibt uns weitere Hinweise darauf, dass die Autoren tief in die frankianische Klosterkultur eingebettet waren. Die christliche Kultur der Franken war im 8. und 9. Jahrhundert stark von der angelsächsischen Kirche beeinflusst worden, auf die ein großer Teil der Klöstergründungen und der Ausbildung zurückgeht.

Ein weiterer Einfluss war die politische und militärische Expansion von Carolus Magnus und seinen Nachfolgern. Klöster wurden als „sichere Ort“ befestigt und erhielten somit militärische Bedeutung. Eine systematische Erziehung im Kampf für Mönche ist aber außerhalb eines militärischen Ritterordens nicht bekannt. So können wir keine Korrelation zwischen der wirtschaftlichen und politischen Macht des fränkischen Klosters und einer Tradition der “kämpfenden Mönche” zum Aufbau und Erhalt dieser Macht schließen.

Kein geistlicher Ritterorden verfasste das Buch I.33

Die militärische Ausbildung der “Teutonischen Ritter” würde dem Bedürfnis entsprechen, ein Buch über Fechten zu schreiben. Der Orden war im 13. und 14. Jahrhundert sehr erfolgreich in Franken errichtet worden. Aber neben der Nähe von 19 km zwischen Tauberbischhofsheim (Walpurgis) und Mergentheim (Zentrum des Deutschen Ordens) gibt es wenig Hinweise darauf, dass das Buch überhaupt etwas mit dieser christlichen Ritterordnung zu tun hat. Darüber hinaus würde die Vorstellung, dass nur eine spiritueller-militärischer Orden von großem Einfluss gewesen ist, nicht die Situation des 13. und 14. Jahrhunderts widerspiegeln. Selbst in der Stadt Mergentheim war ein Kloster der Dominikaner und eine aktive Gruppe der Johanniter vorhanden. Die wohlhabende Region Franken wurde von jedem verfügbaren christlichen Orden gut abgedeckt.

Priester oder Mönch

Scriptorium Michelsberg, Staatsbibliothek Bamberg Msc.Patr.5Die Darstellungen des Buches lassen nicht erkennen, welchem Orden der Priester angehört hat (wenn er überhaupt ein Ordensmitglied war). Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung können wir das Buch I.33 nicht in einen Zusammenhang mit einem bestimmten Kloster oder gar einem Orden stellen. Tatsächlich ist die Bezeichnung „Priester“ eher ein Hinweis, dass es sich um ein Priester in einem Stift wie den Augustinerchorherren handelt. Diese Regularkanoniker waren keine Mönche, sondern eine Gemeinschaft von Priestern, die nach Ordensregeln lebten und arbeiteten. Die Augustinerchorherren gehörten neben den Benediktinern zu den wesentlichen Kulturträgern Bayerns und Frankens im Spätmittelalter, wurden aber in der Säkularisierung anfang des 19. Jahrhunderts aufgelöst.

Fundiert ist, dass die Werkstatt des Buches in Franken war, dass die Autoren deutschen oder fränkischen Hintergrund hatten, und dass die Autoren tief in die Ordenskultur eingebettet aber vermutlich keine Mönche waren.

Der Papst besucht das I.33

Auf dem Blatt 1 recto findet sich ein Eintrag, der als Zitat des bibliophilen Papstes Pius II gedeutet wird.

E.S.P.: Non audet Stygius Pluto tentare, quod audet Effraenis Monachus, plenaque fraudis anus. 

I.33: Non audet stygius pluto tentare, quod aude[t]  Effrenis monachus plenaque dolis anus

Enea Silvio Piccolomini war ein Schriftgelehrter, Autor von unglaublich(!) vielen Schriften und Abschriften des 15. Jahrhunderts. Seine vielfältigen Reisen sind dokumentiert, doch bei weitem nicht detailliert genug, dass sich daraus ein Aufenthaltsort ausfindig machen lässt, der das Buch und den zukünftigen Papst zusammen bringt. Ob der Schriftgelehrte und Diplomat den Eintrag selber vorgenommen hat, oder jemand diesen als geflügeltes Wort als passend zu dem Text auf das Blatt kritzelte, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Handschrift lässt sich nicht eindeutig zuordnen. Dazu sind die Handschriften, welche Enea Silvio Piccolomini vorgeblich selber verfasst hat, in sich schon zu unterschiedlich. Der Prozess der Buchherstellung sieht auch nicht zwingend vor, dass der Autor selber das Buch auf Pergament oder Papier setzt. Er fertigt beispielsweise Wachstafeln an, die von Schreibern übertragen werden.

Nicht der Papst aber sein Sekretär

Enea Silvio Bartolomeo PiccolominiDoch tatsächlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Enea Silvio Piccolomini und dem Fechtbuch. Dieser stellt sich in Person des Abtes Eberhard von Venlo dar. Dieser in den heutigen Niederlanden geborene Geistliche war Sekretär des zukünftigen Papstes, bevor er sich durch die Reformation und wirtschaftliche Sanierung in Mainz einen Namen gemacht hatte. Der inzwischen zum Papst Pius II. ernannte Piccolomini übertrag Eberhard von Venlo und Johannes von Bursfeld offiziell die Reform der Benediktinerklöster.

Aufstand der Mönche

Als Eberhard 1463 in Bamberg als Abt auf dem Michelsberg ankam, zog er als erstes die Schlüssel zu Kirche, Bibliothek, Keller und den Wirtschaftsräumen ein. Damit sicherte er, dass von den aufständigen Mönchen nichts entwendet und verkauft würde. Einige Mönche kehrte das nicht und sie brachen in die Sakristei ein und flüchteten mit wertvollen Kirchenschätzen und Dokumenten. Der Konflikt wurde beigelegt und schlussendlich konnte Eberhard seine Reform durchsetzen. Dazu gehörte auch die Restaurierung der gebeutelten Bibliothek des Klosters Michelsberg. Dies war insoweit notwendig, da das Kloster 1429 von den Hussiten und im Juni 1435 von Bamberger Bürgern geplündert worden war. Diese trugen sieben Ochsenwagen voller Plündergut aus dem Kloster, darunter etliche Bücher aus der Bibliothek. Inwieweit diese Bücher zurückgegeben wurde, nachdem der Bürgerschaft mit dem drohenden Heer des Bischofs vor der Stadt die Strafe von 60.000 Florin auferlegt wurde, ist nicht bekannt.

Es lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen, ob das Fechtbuch vor 1463 bereits auf dem Michelsberg bei Bamberg befand. Dass es zwischen 1463 und 1475 in die Hände von Abt Eberhard kam, der einen gängigen Spruch seines Dienstherren dort eintrug, ist sehr wahrscheinlich.

Der erste Raub

Markgrafenkrieg in der Schwäbischen Chronik (Lirer)Der erste Raub des Buches durch den Landsknecht Johannes Herwart von Würzburg fand während des Zweiten Markgrafenkrieges statt. Diese kriegerischen Auseinandersetzungen wurden durch den Konflikt des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach und der Reichsstadt Nürnberg befeuert. Der Markgraf ließ sein Heer durch das Frankenland marschieren und versuchte das teure Unterfangen eines Krieges mit Hilfe von Brandschatzung (oder der Androhung der Brandschatzung), und Entführungen zu finanzieren. Diese Brandschatzungen wurden soweit es ging sogfältig dokumentiert,  schließlich sollte das geraubte Gut zu Geld gemacht werden, um die Söldner zu bezahlen. Doch wurden manche Söldner auch durch die geraubten Waren entlohnt.

Plünderung ist Söldnerlohn

So wird es auch Johannes Herwart ergangen sein, als er möglicherweise an der Brandschatzung des Hochstifts Bamberg sich beteiligte. Dieses Hochstift hatte eine ausgezeichnete und umfangreiche Handschriftensammlung selber erstellt und erworben. Als es 1552 geplündert wurde, entstanden deutliche Verluste. Doch das Hochstift war nicht die einzige geplünderte klösterliche Bibliothek. So wurden ebenfalls die Klöster Aura (Saale), Theres, Eltmann, Langheim, Michelsberg, und die Frauenklöster Pillenreuth, Schlüsselau und St. Theodor, sowie das Augustinerchorherrenstift Neunkirchen beraubt.

Hochstift Bamberg und das Kloster Michelsberg

Bei der Betrachtung der Brandschatzungen im Zweiten Markgrafenkrieg ist zu beachten, dass etliche fränkische Klöster wenige Jahrzehnte zuvor durch die Bauernkriege um ihre wertvolle Bibliothek gebracht wurden. Dies erzeugte ebenso wie die Hussitenkriege 100 Jahre zuvor eine größere Bewegung der Bücher, welche vor den anrückenden Bauern in Sicherheit gebracht wurden.

Stellen wir die Annahme voran, dass Eberhard von Venlo für das Zitat seines Dienstherren in dem Fechtbuch Verantwortung trägt, und das Kloster Michelsberg trotz Besetzung durch die Bauern 1525 Teile seiner Kloster MichelsbergBibliothek retten konnte (darunter auch das Fechtbuch), so ließe sich aus den Berichten des Markgrafenkrieges folgern, dass Johannes Herwart das Buch aus dem Kloster 1553 entwendete. Dies ist schlüssig und auch wahrscheinlich, doch belegt ist es nicht.

Weitere Forschungen möglich

Wir können vom heutigen Forschungsstand aus nicht mit Sicherheit sagen, wo dieses Fechtbuch geraubt wurde. Einige dieser Klöster und auch das Domkapitel Bamberg verfassten Kataloge ihrer Bücher, die jedoch noch nicht wissenschaftlich vollständig erschlossen sind. Hier könnten sich in Zukunft neue Hinweise auf den Ursprung des Fechtbuches ergeben. Des Weiteren stehen uns Soldlisten und Brandschatzakten aus dem Markgrafenkrieg zur Verfügung, die einen Eintrag zu Johannes Herwart oder Handschriften enthalten können. Es sind noch lange nicht alle Möglichkeiten der Erforschung dieses Manuskripts abgeschlossen.

Ruhige Jahrhunderte in Gotha

Johannes Herwart von Würzburg, der wie im 16. Jahrhundert üblich zwischen seinem Beruf als Gürtel- und Riemenmacher und dem Soldatendasein wechselte, führte das Buch seinem neuen Arbeitgeber, dem Fürsten von Sachsen-Gotha zu. Dort hielt er eine Stellung als Fechtmeister des jugendlichen Prinzen Friedrich Wilhelm. Dieses ist uns überliefert von Heinrich von Gunterrodt.

Die Verbindung zwischen Johannes Herwart und Heinrich von Gunterrodt stellte Doktor Heinrich Siber her. Dieser erzog die Söhne des Grafen Johann Georg I. von Mansfeld-Eisleben.

Herwart, Gunterrodt und Siber

Friedrich Wilhelm I. (Sachsen-Weimar)Heinrich Siber wurde 1567 Prinzenerzieher des fünf Jahre alten Friedrich Wilhelm von Sachsen Weimar, Sohn des Herzogs Johann Wilhelm. Der junge Prinz zeigte einen wachen Geist, was zu seiner Immatrikulierung in die Universität in Jena mit nur 12 Jahren führte. Doch auch fechten sollte der Junge lernen. Dazu wurde der Veteran Johannes Herwart beigeholt. Dieser führte eine alte in Latein gefasste Handschrift zum Fechten mit sich.

1575 änderte sich das politische Klima in Sachsen-Weimar, als Kurfürst August die Regentschaft über den minderjährigen Prinzen übernahm. Augustus, wie er sich selbst nannte, entließ den Prinzenerzieher Kaspar Bienemann, ein strenger reformistischer Lutheraner. Kurfürst August war selber Anhänger der Luthers, doch eher konservativ.

Von Gotha nach Schwerin

Heinrich Siber hatte bereits 1572 Gotha verlassen und in Schwerin den Posten als Prinzenerzieher der Brüder Sigismund August und Johann VII von Mecklenburg übernommen. Mit Sicherheit ging ein Teil der alten Fechthandschrift mit ihm. Entweder weiterhin in den Händen von Johannes Herwart, oder als Kopie erstellt von Heinrich Siber. Wir haben keinen Belege, ob Johannes Herwart Fechtmeister der Prinzen in Schwerin wurde. 1570 wurde der uns wohl bekannte Freifechter aus Straßburg Joachim Meyer als Fechtmeister nach Schwerin berufen, doch erkrankte und starb er auf der Reise. Seine Bücher jedoch kamen an. Doch das ist eine andere Geschichte.

Der der Eintrag von Gunterrodt deutet daraufhin, dass Herwart nicht mit nach Schwerin kam. Trotzdem kam Heinrich Gunterrodt in Schwerin an den Inhalt des Fechtbuchs und an die genaue Information der Herkunft. Es spricht viel dafür, dass Heinrich Siber eine Kopie erstellte. Dieser war sicherlich dem Latein weitaus mächtiger als der Kriegsveteran. Er mag das Buch sogar als Lehrmaterial für den sächsischen Prinzen Johann Wilhelm verwendet haben. Eventuell stammen die kindlichen Kritzeleien in dem Buch aus prinzlicher Hand.

Kinderkritzeleien aus Prinzenhand

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Heinrich von Gunterrodt widmete seine beiden 1579 erschienen Bücher, die Handschrift „Sciomachia et hoplomachia“  und das Druckwerk „De Veris Principiis Artis Dimicatoria“ dem minderjährigen Prinzen Johann VII von Mecklenburg. Die Handschrift entstand 1578, bevor Heinrich Siber an die Universität Jena ging, um dort zu lehren. Gunterrodts Handschrift, die als Vorlage des Druckwerkes diente, enthält deutliche Hinweise auf das Fechtbuch aus Franken, sowie die Geschichte der „Auffindung“ in dem Kloster während des Markgrafenkrieges. Die Zeichnungen, welche Gunterrodt anfertigt oder anfertigen ließ, sind jedoch weit entfernt vom Original. Ein weiterer Hinweis, dass er nur eine Kopie zur Verfügung hatte.

Aus dem Andenken entfernt

Da Johann VII von Mecklenburg unter dem Druck der Regierungsgeschäfte zusammenbrach und sich vermutlich in Sünde selbst tötete, bestand nur wenig Interesse an dem Erhalt seiner Akten. Nur ein Bildnis von ihm überdauerte die Zeit. Eine Recherche in Bezug auf seine Erziehung scheint hier aussichtslos.

Eine Kopie in Jena?

Die von Heinrich Siber mutmaßlich erstellte Kopie ging mit dem Lehrmeister nach Jena. Welchen Weg sie von dort aus nahm, ist aktuell noch unbekannt. Es scheint jedoch so, dass von dieser Kopie weitere Abschriften erstellt worden sind. Doch dies sind ebenfalls andere Geschichten.

Das Fechtbuch selber hat Gotha bis zu seinem zweiten Raub vermutlich nicht verlassen. Denn es findet sich wieder in der Inventur der Gothaer Sammlung aus dem 18. Jahrhundert. Dort wird das Buch unter dem Eintrag Cod.Membr.I.no.115 geführt.

Der zweite Raub

Doch der Raub des Fechtbuches I.33 im 16. Jahrhundert blieb nicht einzigartig in der Geschichte des Buches. Das bisher letzte kriminelle Kapitel spielt sich in der Thüringischen Kleinstadt Gotha ab. Diese Stadt im Herzen Deutschlands hat für geschichtlich Interessierte viel zu bieten. Wir konzentrieren uns aber lediglich auf das ab dem Jahr 1643 errichtete Schloss Friedenstein. Hier fand sich die „Herzogliche Wunderkammer“ als Ursprung der weltberühmten Kunst und Literatursammlung Gotha. Herzog Ernst der Fromme (1601-1675) brachte seine Büchersammlung aus Sachsen, seine Kriegsbeute des Dreißigjährigen Krieges mit nach Gotha. Durch Schenkungen und Ankäufe wurde die Büchersammlung kontinuierlich erweitert. Unter anderem durch die Bibliothek des Theologen Johann Gerhard (1582-1637 und seines Sohnes, durch Herzog Friedrich (1646-1691) mit Teilen der Altenburger Hofbibliothek, durch Herzog Ernst II. (1745-1804) erwarb das Evangeliar von Echternach, Ulrich Jasper Seetzen (1767-1811) brachte orientalische Handschriften von seinen Reisen mit. Die Berühmtheit der Bibliothek in der Herzoglichen Sammlung war bereits im 18. Jahrhundert gegeben.

Familienbesitz, oder eher doch nicht?

Victoria Adelheid Sachsen-Coburg und Gotha Im Kriegsende-Jahr 1945 befanden Herzogin Victoria Adelheid Sachsen-Coburg und Gotha (geborene von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg) und ihr englischer Gatte Charles Edward Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (Enkel von Queen Victoria), dass die schönsten Stücke der Sammlung nicht in die Hände der Russen fallen dürfen. Diese Entscheidung war grundsätzlich nicht falsch, denn der Verlust der Kunstgegenstände in die ehemalige Sowjetunion betraf mehr als 50% der Sammlung. Allein 330.000 Bände aus der Bibliothek der Stiftung wurden 1946 nach Osten abtransportiert. Doch die Motivation der Herzogin war wohl nicht das Wohl der Kunstschätze, sondern sie sah diese als „seit Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie“. Das war „gefühlt richtig“ sachlich jedoch falsch.

Familienstiftung

Die Sammlung wurde 1905 in den seit 1712 bestehenden Fideikommiss des Herzogtums Gotha umgewandelt. Dadurch durfte die Familie Gewinn abziehen, der Bestand war jedoch unantastbar. Die verfassungsrechtliche Fürstenteignung im Jahre 1919, welche auch Kunstsammlungen in die öffentliche Hand überführte, wurde 1925 durch das Reichsgericht wieder einkassiert. Trotzdem befand die herzogliche Familie, dass es wohl besser und billiger war, die Sammlung in eine öffentliche Stiftung zu überführen. Die Sammlung Schloss Friedenstein ging 1934 in die 1928 gegründete „Herzog-von-Sachsen-Coburg-&-Gotha’sche-Stiftung für Kunst und Wissenschaft“ auf. Die Kosten für den Erhalt der Sammlung oblagen somit der öffentlichen Stiftung.

Die Russen kommen

Kurz bevor die Amerikaner im Mai 1945 aus Gotha abzogen und wie vereinbart der Roten Armee Platz machten, stand Herzogin Victoria vor der schweren Wahl, was sie vor den Bolschewiken „retten“ sollte. Freundliche Hilfe erhielt sie von Freiherrn Schenk zu Schweinsberg, dem Direktor der Kunstsammlungen.  Die Auswahl wurde dadurch erleichtert, dass die Sammlung schon zu Beginn des zweiten Weltkriegs aufgeteilt wurde, so wurden wertvolle Stücke im Jagdschloss Reinhardsbrunn gebracht, größere Gemälde in einem sicheren Raum in Schloss Friedenstein vor Bomben geschützt.

In “Sicherheit”

Ihre Wahl fielen nicht nur auf die teuersten Münzen des Münzkabinetts, die wertvollsten Gemälde von handlicher Größe, sondern auch auf die relativ leicht zu transportierbaren uralten Handschriften der Sammlung, darunter u.a. das Evangeliar von Echternach, die Mainzer Riesenbibel, das Gothaer Missale, und – die Indizien sprechen dafür – das Fechtbuch I.33. Die Stücke wurden, mit zurückhaltender Unterstützung der Amerikanischen Armee (eine Bitte der Herzogin um einen Güterzug zum Abtransport wurde abgelehnt), teilweise abenteuerlich im Rucksack nach Coburg in Bayern verbracht. Rentmeister Dötschel in Coburg notierte März 1945 fleißig den Erhalt von vier  Gemälden (drei Rubens, ein Hals) und neun Manuskripte. Ob unser Fechtbuch darunter war, wissen wir leider nicht. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich.

In den folgenden Jahren verschwanden etliche dieser so in „Sicherheit“ gebrachten Kunstschätze aus Coburg. Sie wurden unter der Hand verkauft und zumeist bei Sotheby’s versteigert. Das Fechtbuch angeblich „unbekannter Prevenance“ wurde am 27. März 1950 in die Auktion bei Sotheby’s gestellt. Die Stiftung Royal Armouries erwarb es.

Ruhige Jahre in England

Von 1950 bis 1975 fand das Fechtbuch wenig Aufmerksamkeit jenseits des engeren Fachpublikums. Es verbrachte 25 ruhige Jahre unter der Eintragung „Tower of London Ms. I.33“ (auch „British Museum No. 14 E iii, No. 20, D. vi. I“). Erst als Krämer 1975 das Buch als den Kriegsverlust aus Gotha identifizierte begann man das Augenmerk auf dieses Buch zu richten. Besonders die Gemeinschaft der Historischen Fechter interessierten sich für die Handschrift, da sie schnell als das vermutlich älteste Buch zur Kampfkunst galt. Diese Aufmerksamkeit führte zu verschiedenen Publikationen. Im Jahre 1996 wurde das Buch in die neu geschaffenen musealen Räumlichkeiten der Royal Armouries in Leeds verbracht. Dort kann es nach Anmeldung bestaunt werden. Eine Rückführung oder ein Rückkauf nach Gotha ist nicht absehbar.

Quellen
Wesentliche Quelle für den Kunstraub aus Gotha ist Michael H. Carl, Herbert Güttler, Kurt Siehr, Kunstdiebstahl vor Gericht, Walter de Gruyter, 2001

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