Das Kernprinzip der Kampfkunst ist es, nicht getroffen zu werden, während man den anderen trifft. Wie dieses ultimative Ziel tief in den Quellen verankert wurde, lässt sich aus der Definition des Kerns der Fechtkunst erkennen, wie er von den Fechtbüchern benannt wurde: dem Ort. Der folgende Artikel erläutert dies auf anschauliche Weise.

Was ist der Ort?

Als Ort wird gemeinhin die Spitze jedes Schwertes verstanden. Seine maßgebliche Aufgabe ist die potentielle Verletzung des Gegners in einer Stoßbewegung: dem Stich. Das Fechten mit dem Ort wird als Stoßfechten bezeichnet. Dies ist eine zutreffende Bezeichnung, da sie nicht nur das Fechten mit spitzen Waffen, sondern allen Waffen mit einem Ort umfasst.

Tatsächlich weisen längliche Waffen zwei solcher Orte auf. Die Quellen nennen für Stangenwaffen einen langen und einen kurzen Ort. Als langer oder vorderer Ort wird die lang gefasste Seite angeführt. Sie weist zumeist auf den Gegner. Der kurze oder hintere Ort zeigt oft nach unten oder hinten. Auch wenn das Schwert eine eindeutige Spitze hat und mit dem Knauf oder Kloß eine gute Bezeichnung, finden wir auch im Schwert vereinzelt die Bezeichnung des kurzen oder hinteren Orts. Eine längliche Waffe weist also immer zwei Orte auf. Mit jeden Ort können wir den Gegner erreichen und im Stoß verletzen.

Unendlich viele Orte?

Betrachten wir ein Schild, so haben wir neben dem Schildbuckel als Ort auch den Schildrand. Theoretisch wird die Anzahl der Orte am Schildrand ins Unendliche gehen. Denn mit jedem Punkt des Schildrandes können wir den Gegner im Stoß verletzen. Praktisch unterscheidet man den Hieb oder Schlag vom Stoß. So dass ein Schildschlag und ein Schildstoß nicht das Gleiche sind. Sie sind unvereinbare Bewegungen. Ein Stoß ist eine gerade gerichtete Bewegung entlang einer Linie, während ein Schlag eine runde, den Winkel veränderte Bewegung ist. Der Schlag mit dem unteren oder oberen Schildrand erfolgt in dieser Logik mit der Schildkante oder -schneide. Der Stoß mit dem vorderen oder (extrem selten) hinteren Schildrand erfolgt mit den Orten des Schildes.

Ein Hau, wie von einer Schnur gezogen

Mit viel Kunst kann sich der Ort in einem Schlag auch entlang einer Linie bewegen. Die Aufschlagfläche, die Schneide des Schwertes ist aber von der Winkelveränderung weiterhin betroffen. Ein schnelles Absenken der Klinge – in einer Bewegung dem Fallbeil nicht unähnlich – ist als Extrem zwar möglich, doch wegen mangelnder Kerb-, Schnitt- oder Hackwirkung nicht als Hau oder Schlag zu betrachten, sondern lediglich eine Form der Verteidigung.

Jedem Ort kommt also die besondere Bedeutung zu, dass er sich im Stoß oder Hau gradlinig auf den Gegner zu bewegen kann. Während es im Hau der Winkelveränderung bedarf, ist dies im Stoß die einfache Fortführung einer gedachten Linie. Es scheint daher nur verständlich, dass die einfache Form eine besondere Bezeichnung erhielt: der “Langort”.

Ganz viele Orte

Der “Langort” oder besser “Lange Ort” ist in seiner Namensgebung nicht einzigartig. Er hat sein Gegenteil im „Kurzen Ort“ wie er unter anderem von Joachim Meyer (Druck 1570), Lecküchner (CGM 582) und Paulus Hector Mair genannt wird. Der „Vorder-Ort“ und „Hinder-Ort“ im Stangenfechten bei Joachim Meyer und anderen wurde oben bereits erwähnt. Sie sind gleich bedeutend mit dem Langen und Kurzen Ort.

Insgesamt haben wir eine gut ausgebaute Liste von „Orten“ in der Fechtkunst. So wird von Hans Folz (MS Q.566) und Paulus Hector Mair noch ein „Ober-Ort“ (auch bei Talhoffer), „Under Ort“ (Mair, Gladiatoria, Talhoffer) und ein „Neben-Ort“ genannt. Ein „falscher Ort“ findet sich bei Hutter (CGM 3711), ein „gewappneter Ort“ und „schlagender Ort“ bei Lecküchner (CGM 582) und Talhoffer. Weit verbreitet findet sich der „Hangend-Ort“ in etlichen Büchern. Joachim Meyer kennt noch einen „über Ort“ als Wegpunkt für einen Hau. Der „verborgene Ort“ ist bei Hans Folz und Paulus Hector Mair versteckt. Schlussendlich noch der “freie Ort” bei Talhoffer in seinem Münchner Fechtbuch, auf den wir später noch zurückkommen werden.

Der Name eine Banalität?

Die Bezeichnung des Langen Ortes als Gegenteil des Kurzen Ortes ist bei obiger Betrachtung in ihrer Trivialität nicht zu überbieten. Es ist das Ende des langen Stücks, was vorne aus dem Griff herausschaut. Trotzdem messen wir dem Namen zu Recht besondere Bedeutung zu. Denn im Langen Ort ist die Winkelveränderung im Hau abgeschlossen und eine längliche Waffe „längt“ sich. Um dies zu verstehen benötigen wir einen Blick auf eine ganz andere Sportart: dem Ballsport.

Anschieben und Loslassen

Wirft man einen Ball, so muss man ihn, nachdem man ihn ausreichend „angeschoben“ hat, zu einem gewissen Zeitpunkt freigeben. Der losgelassene Ball wird nicht mehr der Winkelveränderung durch den Arm unterworfen, sondern erhält einen Vektor für seine Flugbahn entsprechend dem mitgegebenen Schub. Ohne Anziehungskraft der Erde und Luftreibung würde der Ball nun geradlinig entlang einer Länge durch den Weltraum sausen: er längt sich.

Schwerter nicht loslassen

Da wir das Schwert im Gegensatz zum Ball aber nicht freigeben im Hau, erfolgt das Längen in einer Kombination der eigenen Haubewegung mit dem Drehen des länglichen Gegenstandes durch Kipp- und Schwerpunkt. Die Geometrie eines gut ausbalancierten Schwertes unterstützt diesen Sachverhalt enorm (um die Unterschiede auch für Anfänger spürbar zu machen, empfehlen wir die gleiche Haubewegung mit einem Golfschläger und einem gut ausbalancierten Schwert durchzuführen).

Der Länge nach streben

Im Langen Ort strebt das Schwert also nicht mehr der Winkelveränderung, sondern der Länge nach. Wird die Bewegung über den Langen Ort hinweg geführt, so wird eine weitere Winkelveränderung erzwungen. Die Weiterführung der Winkelveränderung erfolgt nicht selten in einer ziehenden Bewegung. Daher spricht man auch von einem durchgezogenen Hau. Der Lange Ort ist somit der Bereich, in welchem sich ein Hau von Schieben zu Ziehen wandelt und das Schwert sich längt.

Auch wenn die Namensgebung des Langen Ortes ursächlich nicht in der „Längen“-Eigenschaft des Schwertes zu finden ist, so hilft der Name sich dessen bewusst zu sein.

Die längste Reichweite?

Widersinnig wird der Namen des Langen Ortes jedoch, wenn er als „längster Punkt“ der Reichweite betrachtet wird. Denn das ist er nicht.

Die längste Reichweite erhält man mit durchgestrecktem Arm, vorgeschobener Schulter, vorgebeugtem Oberkörper und entsprechend positioniertem Unterleib. Eine Körperhaltung, die im deterministischen Stoß akzeptabel, im Hau jedoch völlig unsinnig ist. Da die Fechtquellen einheitlich den Langen Ort als End- oder Durchgangspunkt des Haus sehen, ist eine solche Idee somit abwegig. Der Lange Ort ist keineswegs der Punkt der größten Reichweite des Fechters.

Der längste Punkt im Hau?

Aber der Lange Ort ist auch nicht der Punkt in der Kurve eines Haus, der die größte Reichweite oder Nähe zum Gegner erzielt. Die Ortgeschwindigkeit in einem Hieb liegt zwischen drei und vier Meter pro Sekunde. Ereignisse, die sich auf einen Wegbereich von wenigen Zentimetern innerhalb einer solchen Bewegung einschränken, sind für die Systematik einer Kampfkunst nicht relevant. Die Lebensdauer des Langen Ortes muss somit über die der längsten Reichweite eines Haus hinweggehen.

Darstellungen des Langen Ortes in den Fechtbüchern

Somit erklärt sich, dass wir den Langen Ort in verschiedenen Winkeldarstellungen in den Fechtbüchern abgebildet sehen. Die Abbildungen sehen in deutlicher Mehrzahl lange, aber nicht durchgestreckte Arme und einen leicht aufgestellten Winkel, selten einen nach unten geneigten. In der Gesamtbetrachtung ergibt sich Winkel, welchem die Spitze des Schwertes von der Stirnhöhe bis zur Kniehöhe des Gegners zeigt. Der Lange Ort zeigt somit immer zum Leib des Gegners.

Definition des Langen Ortes

Der Lange Ort ist der Bereich eines Haus, in welchem das Schwert sich in langen Armen längt, während dessen Spitze auf den Körper des Gegners zeigt. Da dies für den Stich eine Mindestvoraussetzung ist, erfolgt ein Stich mit der Spitze des Schwertes immer im Langen Ort, selbst wenn er beispielsweise als Oberstich seinen Anfang nahm.

Somit endet jeder Hau im Langen Ort und beginnt darin. Denn wenn das Schwert nach dem Schieben sich längt und auf den Körper des Gegners zeigt, so ist der Lange Ort erreicht. Führt man das Schwert weiter, so beginnt eine neue Bewegung mit dem Ziehen des Schwertes zurück.

Mangelndes Verständnis

Vom Verständnis sind die meisten historischen Fechter jedoch nur ungern bereit, Positionen wie die Huten und Leger als die Start- und Endpositionen eines Haus aufzugeben. Sie verstehen nicht die Zerlegung in die drei Teile: ein Schieben zum Nähern, Verweilen im Zwischenzustand, Ziehen zur Erholung. Selbst wenn sie auch in der taktilen Form als Vor/Indes/Nach ebenfalls vorgetragen werden.

Rezeption in der Gemeinschaft der Historischen Fechter

Ursache für mangelndes Verstehen ist in der Unzulänglichkeit des Begriffs zu finden und der Verwendung durch die Historischen Fechter. Seine Begriffsverwandten werden nicht verwendet, obwohl sie in der Fechtliteratur vorhanden sind. Folgender Satz wäre möglich, um einen der Oberhäue zu erläutern „Halte das Schwert im Oberen Ort, treibe die Klinge in den Langen Ort und ziehe in den Neben Ort zurück“. Dies alles sind valide Fechtbegriffe aus den Quellen. Sie finden jedoch keine Verwendung in den Übungen der meisten historischen Fechter. Stattdessen wird sich in sinnbefreiten Hutenläufen geübt und von Tag in den Wechsel oder Pflug geschlagen. Der Lange Ort kommt in Übungen nur vor, wenn gestochen wird oder so genannte „Halbe Häue“ geschlagen werden. In diesen Halben Häuen ist der Lange Ort eine feste Position zum Stich mit meist ausgestrecktem horizontalen Arm. Mit dem Kern der Fechtkunst haben solche Übungen wenig gemein.

Unzulängliche Begrifflichkeit in den Fechtbüchern

Der Begriff selber ist unzulänglich, da sein Gegenteil der „Kurze Ort“ nur geringe Rolle spielt. Selbst wenn auch hier in der Namensgebung die Kürzung in der Bewegung enthalten ist und mit dem Kurzen Ort nur getroffen werden kann, wenn der Lange Ort maximal gekürzt ist (also nach hinten zeigt), so ist der Begriff nicht eindeutig genug.

Weitaus gravierender ist, dass dem Begriff des Langen Orts in seiner Eigenschaft als „vorderer Ort“ im Sinne „nach vorne auf den Körper des Gegners zeigen“ kein Gegenteil gesetzt wurde, dem entsprechend Raum in den Fechtbüchern gegeben wurde. Sondern es wird zwischen „Neben“, „Oben“ und „Unten“ und „Kurz“ („Hinten“) unterschieden. In den Fechtbüchern findet sich zu diesen Orten auch keine einheitliche Definition. In manchen wird die Spitze auf den Gegner gerichtet, in anderen nicht. Während der Lange Ort  seine Definition im Laufe der Zeit schärfte, erscheinen die anderen Bezeichnungen individuell geprägt.

Es ist menschlich verständlich, dass den Huten und Legern in ihrer taktischen Bedeutung und optischer Attraktivität eigene Namen gegeben wurden. Für das Verständnis der Systematik ist das allerdings weniger hilfreich, dass dies für die Orte kaum stattfand.

Der Außen-Ort als Begriff für die Eigenschaften aller Nicht-Langen Orte

Es fehlt in der Fechtliteratur ein Begriff für die Eigenschaft des Schwertes, mit der Spitze vom Körper des Gegners weg nach außen zu zeigen: eine Art „Außen-Ort“. Dieser „Außen-Ort“ würde alle Orte zusammenfassen, die nicht auf den Leib des Gegners zeigen. Die einzige Näherung zu einem solchen Begriff nennt Hans Talhoffer in dem in München liegenden Fechtbuch Cod. Icon 394a: der “freie Ort”. Dies ist tatsächlich ein Ort, der zwar nach vorne zeigt, aber nicht auf den Leib des Gegners. Ob dies auch den Ort umfasst, der im Band nicht zum Gegner zeigt, zweifel ich.

In der taktischen Betrachtung benötigt der Außen-Ort somit eine Winkelveränderung, um den Ort wirksam zu machen. Der Lange Ort dagegen ist immer wirksam, da er auf den Leib des Gegners ausgerichtet ist. Um diese Eigenschaft zu isolieren, wäre die Bezeichnung „Innen-Ort“ valide (auch wenn die Terminologie von Innen und Außen in der Fechtliteratur ebenfalls nicht vollständig konsistent ist).

Der Innen-Ort als Begriff für die Eigenschaften des Langen Ortes

Im „Innen-Ort“ ließen sich somit die Gesetze des Langen Orts konzentrieren, die für diesen besonderen Sachverhalt gelten, die ihn neben der Eigenschaft im Verlauf einer Haubewegung als Kern der Fechtkunst kennzeichnen. So gilt darin, dass derjenige Fechter als erstes trifft, der im „Innen-Ort“ als erstes zustößt. Somit muss der Innen-Ort als Zentrum immer mit der Wehr geschlossen oder verschränkt werden und der eigene Körper muss selbst aus dem Innen-Ort treten. Schließen oder verschränken beide Fechter das Zentrum, so kann sich keiner mehr im Innen-Ort befinden. Das Sprechfenster entsteht und beide sind im Außen-Ort. Der Außen-Ort ist somit eine zwingende Folgerung aus den Gesetzen des Innen-Orts (Regel: das Sprechfenster entsteht aus dem Langen Ort, sofern beide Fechter das Zentrum schließen oder verschränken).

Versucht ein Fechter aus dem Außen-Ort in den Innen-Ort zu gelangen, so ist eine Winkelveränderung ebenso notwendig wie eine Positionsverschiebung des Körpers. Es entstehen die Winden im Band oder das Zucken und Abnehmen im Hau. Der Krieg in den Umläufen um das Zentrum entspringt aus den Gesetzen des Innen-Orts.

Zusammenfassung

Das die Quellen den Langen Ort als Zentrum der Fechtkunst genannt haben ist mehr als nur verständlich. Denn er vereint wesentliche Eigenschaften in hoher Komplexität:

  • Hau: das Vor-Schieben ist beendet
  • Hau: das Zurück-Ziehen wird noch beginnen
  • Hau: die Muskulatur ist im Entspannungsmoment im Wechsel zwischen Agonist und Antagonist
  • Waffe: Das ausbalancierte Schwert längt sich
  • Waffe: Das lange spitze Teil der Waffe zeigt nach vorn
  • Innen-Ort: Die Spitze zeigt auf den Körper des Gegners
  • Innen-Ort: Wer zuerst den Körper des Gegners erreicht, trifft
  • Innen-Ort: Wer nicht schließt oder schränkt, kann getroffen werden
  • Innen-Ort: Wer nicht austritt, kann getroffen werden

Man kann sich darüber unterhalten, welcher Aspekt nun maßgeblich den Kern der Fechtkunst ausmacht. Auch gibt es zu jedem Gesetz Ausnahmen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass der Lange Ort eine herausragende Bedeutung hat und der Name dem kaum gerecht wird.

Die Verwendung von Begriffen, welche außerhalb der Fechtbücher liegen, sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Die Begriffe “Innen-Ort” und “Außen-Ort” haben sich allerdings als sehr hilfreich erwiesen, da sie auf Vorstellungen von Innen- und Außenraum zurückgreifen. Sie führen die einfache Tatsachen, dass der Ort nach Innen oder Außen zeigt leicht verständlich vor Augen, und helfen so, das Konzept des Langen Orts als Kern der Fechtkunst in einem isolierten Aspekt zu verstehen.